Wie Rechte und Reiche die Pressefreiheit angreifen
Buchtipp: „Murder the Truth: Fear, The First Amendment, and a Secret Campaign to Protect the Powerful“
„Murder the Truth: Fear, The First Amendment, and a Secret Campaign to Protect the Powerful“ (268 Seiten, von David Enrich, in 2025)
Es war einmal ein amerikanisches Medium namens Gawker, das neben sehr viel Gerüchten und Tratsch immer wieder auch spannende Scoops und wichtige Recherchen veröffentlichte. Das Portal traute sich etwas, verärgerte die Reichen und Schönen, war frech und dreist und aggressiv und einfach sehr “Internet der 00er Jahre”.
Doch das kleine amerikanische Medium beging einen Fehler: Es verärgerte Peter Thiel, einen rechtslibertären Milliardär aus dem Silicon Valley. Gawker machte sich über Thiel lustig, kritisierte ihn, outete ihn öffentlich als homosexuell. Thiel schäumte, wollte sich a Gawker rächen – und finanzierte deshalb eine Klage gegen das Medium. Thiel unterstützte den Wrestler Hulk Hogan, der sich gegen ein von Gawker veröffentlichtes Sexvideo wehrte. Und dank Thiel gelang es Hogan in einem jahrelangen Angriff, mehr als 100 Millionen Dollar Schadensersatz von Gawker einzuklagen. Für Gawker bedeutete das das Ende. Für Thiel und ähnlich pressefeindlich denkende Menschen war das erst der Anfang.
Eigentlich sind Medien in den USA relativ gut vor solchen Angriffen geschützt. Die Pressefreiheit ist historisch gut etabliert und relativ weitreichend. In den USA gibt es auch deshalb so viele starke investigative Recherchen, so eine langjährige Tradition des kritischen Journalismus, so viele Recherche-Teams – weil die New York Times im Jahr 1964 einen entscheidenden Gerichtsprozess gegen einen Politiker aus dem Bundesstaat Alabama gewann, gegen L.B. Sullivan.
Der Prozess Sullivan vs. The New York Times ist einer der bekanntesten und wichtigsten Medienrechtsprozesse der Welt. Er etablierte damals das Prinzip, das Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, gegen Medien nur dann Schadensersatz einklagen können, wenn diese wider besseren Wissens rufschädigende Tatsachen verbreitet haben.
Seit mehr als 60 Jahren gilt dieser Standard. Doch in den vergangenen Jahren haben ultrarechte Republikaner, Juristen, Anwaltskanzleien und reiche Unternehmer viel dafür getan, diesen sehr wichtigen Grundstein der amerikanischen Pressefreiheit anzugreifen – und zwar auf vielfältige Weise. Indem sie entscheidende Prozesse gegen Medien finanziert haben, wie es Peter Thiel tat. Indem sie selbst gegen freie Journalisten, kleine Blogs oder große Medien klagten – oder indem sie versucht haben, die juristische Meinung über Sullivan vs. The New York Times zu beeinflussen. Immer mehr konservative Richter – darunter so wichtige wie Supreme Court Justice Clarence Thomas – sehen die Sullivan-Entscheidung inzwischen kritisch. Kippt die Pressefreiheit in den USA?
David Enrich ist ein herausragender Investigativ-Reporter bei der New York Times – und ein sehr guter Geschichtenerzähler. Nach seinen drei wirklich sehr guten Büchern „The Spider-Network“, „Dark Towers“ und „Servants of the Damned“ hat er jetzt mit „Murder the Truth“ wieder ein sehr spannendes, sehr relevantes, sehr gut erzähltes Buch veröffentlicht. Anhand konkreter Beispiele zeigt er auf, wie Reporter*innen in den USA unter Druck gesetzt werden, wie sie traumatisiert weiter machen oder sogar ihre Jobs aufgeben – und wie die Gegner einer freien Presse immer stärker die Grauzonen und Lücken der Gesetzgebung ausnutzen. Etwa, indem sie Prozesse im Ausland führen oder indem sie auch ohne Aussicht auf einen Sieg die Prozesse in die Länge ziehen, weil dann für Journalisten oft hunderttausende Euro Kosten anfallen.
Ich habe beim Lesen oft über unsere Situation in Deutschland nachgedacht. Auch wir erleben es als Reporter*innen immer häufiger, das sehr umfassend und aggressiv gegen unsere Recherchen vorgegangen wird. Meiner Ansicht nach hat sich das in den vergangenen Jahren verstärkt. Es wird immer aufwändiger, sich gegen die Angriffe zu verteidigen. Es gibt eine Tendenz, nicht nur rechtlich, sondern auch mit öffentlichen Attacken gegen Journalismus vorzugehen. Zuletzt hatte die Otto-Brenner-Stiftung eine Studie über sogenannte SLAPP-Klagen veröffentlicht. Auch das Medienmagazin ZAPP hatte darüber berichtet und drei konkrete Fälle beschrieben.
Mir liegt das Thema als investigativer Reporter und Vorsitzender von „Netzwerk Recherche“ natürlich sehr nah, aber ich glaube auch für Nicht-Journalist*innen ist die Lektüre von „Murder the Truth“ sehr lesenswert – und auch kurzweilig. Wer nach dem Lesen dieses Buches etwas tun möchte, dem empfehle ich, ganz uneigennützig, Organisationen wie „Netzwerk Recherche“ oder „Reporter ohne Grenzen“ zu unterstützen.
Vergangenes Jahr habe ich selbst ein narrativ erzähltes Sachbuch über Machtmissbrauch und MeToo veröffentlicht, gemeinsam mit Lena Kampf: „Row Zero: Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie“. Wer diesen Newsletter und meine Arbeit unterstützen möchte, der kann das Buch (am besten im lokalen Buchhandel) bestellen.
Diskutiert gerne mit mir in den Kommentaren oder in den sozialen Medien über die Bücher – oder empfehlt mir weitere, die ich auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag gerne an Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandte weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel