So tief konntet Ihr noch nie in die New York Times reinschauen
Buchtipp: "The Times: How the Newspaper of Record Survived Scandal, Scorn, and the Transformation of Journalism"
“The Times: How the Newspaper of Record Survived Scandal, Scorn, and the Transformation of Journalism” (471 Seiten, von Adam Nagourney, in 2023)
Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich das Gebäude der New York Times betreten habe. Unten, im Foyer, hatte einer meiner damaligen Professoren, Mark Hansen von der Columbia University, eine futuristische Ausstellung mit vielen kleinen Bildschirmen installiert. Oben durfte ich in einem kleinen, verglasten Raum eine der leitenden investigativen Journalistinnen treffen und um Rat fragen für unser zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Geburt stehendes Projekt Correctiv. Diese heiligen Hallen zu betreten, das war damals, im Frühjahr 2014, sehr motivierend. Vermutlich kein anderes Medium auf der Welt hatte und hat bis heute einen solchen Namen, eine solche Strahlkraft.
Dabei sah es vor wenigen Jahren sah es noch so aus, als könnte die New York Times sterben. Die Print-Auflage sank ähnlich schnell wie die Werbe-Einnahmen, die Zeitung musste sich Geld von einem mittelseriösen Geschäftsmann leihen, sie verkaufte ihr Gebäude am Times Square. Heute ist die New York Times die beste und erfolgreichste Zeitung der Welt und eines der wenigen Medienhäuser, das von Jahr zu Jahr erfolgreicher wird, mehr Journalist*innen einstellt, neue Geschäftsbereiche erschließt, Spiele, Koch-Communities, Sport-Medien kauft oder aufbaut.
Vor wenigen Monaten ist ein Buch erschienen, dass die lange Geschichte dieses Über-Mediums detailliert nachzeichnet, anhand dreier Verleger-Generation der Sulzbergers sowie der Chefredakteur*innen und Reporter*innen, die für sie gearbeitet haben. Der Historiker Adam Nagourney (edit: selbst lange Times-Redakteur, Danke für den Hinweis in den Kommentaren an Hanno Schedler) beginnt Mitte der 1970er Jahre, als der Chefredakteur noch Abe Rosenthal hieß, und endet gut 40 Jahre später.
Nagourney schreibt erzählend, journalistisch, eng an seinen Protagonist*innen – so wie es viele amerikanische Historiker können. Er beschreibt die Veröffentlichung der Pentagon Papers, den Kampf weiblicher Mitarbeiterinnen um Einfluss in der Redaktion, den Jayson Blair-Skandal (die amerikanische Relotius-Affäre), den harten Kampf um die Digitalisierung. Vor allem beschreibt er aber die Persönlichkeiten, die für die Times arbeiten, die Machtkämpfe in der Redaktion, die sich verändernden Sichtweisen auf den Journalismus, die Strategien, mit denen die Verantwortlichen den gesellschaftlichen und technischen Veränderungen begegnen.
Das Buch ist natürlich für Journalist*innen interessant, aber längst nicht nur. Es erzählt viel darüber, wie Medien Öffentlichkeit herstellen und welch großen Einfluss die menschliche Seite sowie die wirtschaftlichen Bedingungen in Redaktionen haben darauf, wie das jeweilige Medium die Welt beschreibt. Es ist ein langes, detailliertes, sehr empfehlenswertes Portrait der besten Zeitung der Welt.
Im Frühjahr habe ich selbst ein narrativ erzähltes Sachbuch veröffentlicht, gemeinsam mit Lena Kampf: „Row Zero: Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie“. Wer diesen Newsletter und meine Arbeit unterstützen möchte, der kann das Buch (am besten im lokalen Buchhandel) bestellen.
Diskutiert gerne mit mir in den Kommentaren oder in den sozialen Medien über die Bücher – oder empfehlt mir weitere, die ich auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag gerne an Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandte weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel
Lieber Herr Drepper, Danke für Ihre Empfehlungen und Ihre tolle Arbeit! Eine kleine Ergänzung: Adam Nagourney arbeitet selbst seit langem für die New York Times.