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Darum sind so viele Deutsche frustriert von der Politik

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Buchtipp: „Der Verlust: Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam“

Daniel Drepper
Feb 27
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„Der Verlust: Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam“ (371 Seiten, von Anita Blasberg in 2022)

Am Samstag waren mal wieder mehrere tausend frustrierte Menschen in Berlin auf der Straße. Diesmal, um für Frieden in der Ukraine zu demonstrieren. Viele von ihnen gehörten zu den sogenannten Querdenkern, zu den Corona-Leugnern, zur Querfront, die sich irgendwo zwischen Anti-Amerikanismus und Ausländerhass zu einer breiten Masse formt.

Ich halte es für falsch, diesen Menschen eine zu große Bühne zu geben. Aber ich halte es für sehr richtig, zu ergründen, wo dieser ganze Frust in der Breite herkommt und welche strukturellen Probleme dazu führen, dass auch früher vernünftige Menschen sich solchen Querfront-Demos anschließen.

Die Reporterin Anita Blasberg hat dies in ihrem Buch „Der Verlust“ auf herausragende Weise getan. Sie erzählt das Buch formal über den Vertrauensverlust ihrer Mutter, die früher eine interessierte, engagierte, kritische Bürgerin war – und inzwischen fast nichts mehr glaubt, was Regierung und klassische Medien von sich geben. Statt die Haltung ihrer Mutter abzutun, fragt sie nach, tagelang: Wie kam es dazu? Welche Ereignisse haben zu diesem Bruch mit den Institutionen geführt? Wo wurde ihre Mutter enttäuscht?

Blasberg taucht dann, ausgehend von ihrer Mutter, an den einzelnen Brüchen tief ein: Egal ob Treuhand, Hartz IV-Reformen, Kommerzialisierung der Krankenhäuser, Finanzkrise, quasi insolvente Kommunen, Stuttgart 21, rassistische Morde durch den NSU und in Hanau, Klimakrise oder Nordstream 2 – Blasberg erzählt all diese Entwicklungen verständlich, klar und sehr nah dran, anhand von konkreten Personen.

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Dank Blasberg habe ich noch einmal reflektieren können, wie viel eigentlich ganz grundsätzlich schief gelaufen ist in den vergangenen Jahren – und wie sehr sich die Politik und damit wir alle der Wirtschaft unterworfen haben. Ich finde, ich habe auch ein Gefühl dafür bekommen, was das mit all den Menschen gemacht hat, die jeweils auf andere Weise davon betroffen waren.

In einem Kapitel seziert Blasberg auch die Inszenierung von Politik durch die Medien. Und von angeblich alternativlosen Entscheidungen zugunsten der Wirtschaft. Sie beschreibt ausführlich die Talkshow von Sabine Christiansen, der Vorläuferin so vieler ähnlicher Formate in den Folgejahren. Und geht hart mit ihr ins Gericht.

Manchmal gibt es Orte, an denen sich der Zeitgeist zeigt. An denen sich zu einer exakten Zeit an einem exakten Ort eben jene Energie, jenes Denken offenbart, das eine Gesellschaft antreibt. Sabine Christiansens Kugelstudio am Berliner Breitscheidplatz war so ein Ort. Schwer zu sagen, wer wen mehr prägte: der Zeitgeist Christiansens Studio oder Christiansens Studio den Zeitgeist.

Bei Sabine Christiansen wurde verhandelt, was die Deutschen von der politischen Realität wahrnahmen, welche Dinge sie als Probleme begriffen und welche nicht. Nicht im Parlament, sondern in ihrem Fernsehstudio, so erscheint es rückblickend, wurden Anfang des Jahrtausends die deutschen Normen neu modelliert.

„Wir können nur ausgeben, was in der Kasse ist“, sagte Franz Müntefering in der Sendung. „Wir brauchen Wachstum“, bekräftigte dort Angela Merkel. „Die Arbeitslosen- und Sozialhilfe muss zusammengelegt werden“, forderte Friedrich Merz.

Die Wirklichkeit steckte plötzlich voller Imperative, die den Regierenden scheinbar keine andere Wahl ließen. Sachzwänge, die im Grunde noch nicht mal die Politiker, sondern nur die Experten verstanden. Und Sabine Christiansen verschaffte den Deutschen die Einsicht in das Notwendige, das sie jetzt nur noch absegnen mussten.

Ein ganz wunderbar politisches, herausragend geschriebenes, toll strukturiertes Buch. Große Empfehlung von mir!


Sachbuchliebe geht in eine etwa zweimonatige Pause, weil ich in eine etwa zweimonatige Pause gehe. Danach geht’s an dieser Stelle mit neuen Empfehlungen weiter.

Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag gerne an Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandte weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.

Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald

Daniel

(PS: Hier findet Ihr nochmal ein paar Worte über die Idee dieses Newsletters und was Euch in den kommenden Ausgaben erwarten wird.)

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2 Comments
Isabell Prophet
Writes Feierabend
Feb 27Liked by Daniel Drepper

Das Buch klingt richtig gut, das besorge ich mir auf jeden Fall. Genieß deine Pause!

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1 reply by Daniel Drepper
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