Buchtipp: 500 Seiten über ein wohnungsloses Kind
„Invisible Child: Poverty, Survival and Hope in an American City“
Invisible Child: Poverty, Survival and Hope in an American City (von Andrea Elliott in 2022)
Tagelang stand ich im Herbst 2013 vor diesem Gebäude in der Bronx, das wie ein Fremdkörper wirkt mit seinen sieben Stockwerken, spitz und abweisend, viel rot und viel Glas. Eine lange Rampe läuft hinauf zum Eingang, eine Sicherheitsschleuse und Securities kontrollieren die Frauen und Kinder, die fast jeden Tag dort in langen Schlangen warten, viele mit vollgestopften Koffern oder Taschen, die meisten von ihnen People of Colour. Vor dem Eingang steht ein Bus der Legal Aid Society, in dem Anwälte gratis beraten. Durch das „PATH DHS Assessment Shelter“ in der 151st Street im New Yorker Stadtteil Bronx muss jede Familie, die in New York obdachlos wird und auf eine Unterkunft hofft.
Damals, vor gut acht Jahren, war ich seit wenigen Wochen Student an der Columbia Journalism School in New York City. Meine Investigativ-Klasse bestand aus einem guten Dutzend Studierenden, zusammengekommen aus neun Ländern. Über mehrere Monate beschäftigten wir uns gemeinsam mit unserer Professorin Sheila Coronel mit der Armut in New York. Ich war in Brownsville in Brooklyn und immer wieder in der 151sten Straße in der Bronx. Wir haben Kapitel aus Büchern wie „How the Other Half Lives“ gelesen und viel diskutiert. Ich habe damals mit vielen Familien über ihre Situation gesprochen, aber richtig gute Recherchen sind mir nicht gelungen. Zu überwältigt war ich von den zehntausenden Wohnungslosen in New York, von dem riesigen System, von den vielen Problemen.
Im Dezember 2013, einige Wochen später, erschien dann eine fünfteilige Serie in der New York Times über ein Mädchen namens Dasani, benannt nach einer relativ teuren Wassermarke. Autorin Andrea Elliot erzählte all das, was wir an Problemen der New Yorker Bürokratie kennengelernt und recherchiert hatten anhand eines konkreten Mädchens, seiner Eltern und den sieben Geschwistern. Die Berichterstattung sorgte für neue Gesetze in New York und dominierte die Diskussion über Wohnungslosigkeit für Monate. Die Serie zeigte mir und meinen Kommiliton:innen damals, was möglich ist.
Ich habe die Serie und Dasani bis heute nicht vergessen. Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass Andrea Elliott Dasani nach ihrer Veröffentlichung acht (!) weitere Jahre begleitet hat – und Anfang dieses Jahres ein Buch veröffentlicht hat über das Leben und Aufwachsen von Dasani und ihrer Geschwister. Und was für ein Buch das geworden ist. Elliott gelingt es, die großen Dramen in Dasanis Leben, vor allem aber auch in den Leben ihrer Eltern und Geschwister sehr detailliert zu beschreiben und ihnen gleichzeitig eine größere Bedeutung zu geben, weil sie Kontext gibt. Trotz all der Probleme und wirklich zum Teil unfassbar bitteren Entwicklungen behalten Dasani, Mutter Chanel, Vater Supreme und die sieben Geschwister dank Elliotts differenzierter Berichterstattung immer ihre Würde.
Ich würde mir genau so ein Buch über eine deutsche Familie wünschen.
Hier gibt es die ursprüngliche, fünfteilige Serie von 2013 in der New York Times zu lesen. Und hier gibt es einen Auszug aus dem Buch, der einige der weiteren Entwicklungen beschreibt – für alle, die sich gegen die 500 Seiten entscheiden.
Im Nachwort beschreibt Elliott, wie sie zu dieser Recherche und diesem Buch inspiriert wurde – durch das Buch „There Are No Children Here: The Story Of Two Boys Growing Up“, ein Buch von Alex Kotlowitz aus dem Jahr 1991 über zwei junge, afro-amerikanische Brüder, die in einem Sozialbau in Chicago aufwachsen. Ein Buch, das mich vor Jahren ebenfalls sehr beeindruckt hat und das ich ebef
Diskutiert gerne mit mir auf Twitter oder in den Kommentaren über die Bücher – oder empfehlt mir weitere Bücher, die ich für dieses Jahr auf die Liste nehmen sollte. Falls Euch „Sachbuchliebe“ gefällt, leitet diesen Beitrag weiter oder teilt ihn in den sozialen Medien.
Vielen Dank, viel Spaß beim Lesen und auf bald
Daniel
(PS: Hier findet Ihr nochmal ein paar Worte über die Idee dieses Newsletters und was Euch in den kommenden Ausgaben erwarten wird.)
Deine Gedanken zu "Dieses Buch müsste es zu einer Familie in Deutschland geben" - haben mich an meine Gedanken zu "Random Family" erinnert. Das Buch erschien 2003, die Autorin Adrian Nicole LeBlanc beeindruckte mich damals sehr. (10 Jahre Recherche, immer selbst am Rand der Armut). Ist auch übersetzt: https://www.perlentaucher.de/buch/adrian-nicole-le-blanc/zufallsfamilie.html
Sehr spannend - schau ich gern rein ... danke dir, Daniel.